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Gewinnt die Angst die Überhand?

Gedanken von Dekanin Renate Weigel zum November

RHEIN-LAHN. (11. November 2020). Zum Monat November hat Dekanin Renate Weigel die folgende Andacht geschrieben. Sie greift dabei einen Bibelvers aus Offenbarung 21 auf. Dort heißt es im 4. Vers: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen…“. Sie finden die Andacht auch als PDF-Datei am Ende des Textes, um sie ausszudrucken und an Interessierte weiterzugeben.

 

R Weigel 15Frühe Abende, lange Nächte, graue, feucht-kalte Tage – so erwarten wir den November. Die bunten Herbstfarben verblassen, Adventslichter sind noch nicht angezündet. Dazu kommt in diesem Jahr Corona. Wer allein ist, trägt die Einsamkeit in sich noch schwerer.

In der Kirche ist die Novemberzeit eine unfassbar besondere. Wir erlauben uns etwas, was fast nicht sein darf: Wir reden von Scheitern, Schuld und Irrwegen(Buß- und Bettag). Wir denken an vergangene und gegenwärtige Kriege und die Opfer von Hass und Gewalt (Andachten zum Volkstrauertag). Wir weinen und trauern um unsere Verstorbenen (Toten- und Ewigkeitssonntag).

Wer es zulassen will, den nehmen die Liturgien der letzten Tage im Kirchenjahr mit in die Tiefen unseres Daseins: Angst, Schuld und Tod.

In dem Buch „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ erzählt die Protagonistin, wie sie damit umgeht, wenn die Depression (hier Scheitern, Aussichtslosigkeit, Einsamkeit) kommt. „Ich nehme den grönländischen Weg. Der besteht darin, dass man in das dunkle Loch hineingeht.“ Smilla schaltet den Strom ab, zieht den Telefonstecker, schließt die Tür und setzt sich allein und still hin.

„Ich weiß, es kommt ein Zug. Eine Dampflokomotive mit Bleimantel, die Strontium 90 transportiert. Ich gehe ihr entgegen.“ Sie kann das weil „ich weiß, dass im Tunnel, unter den Rädern, zwischen den Schwellen, ein kleiner Lichtpunkt ist.“

Das klingt nach einer Rosskur, und Fräulein Smilla ist nicht in unserem Sinn gläubig. Aber wenn ich das Kirchenjahr als therapeutischen Weg betrachte, hat es wohl grönländische Anteile. Wir steigen hinab und verweilen. Wo ist der Lichtpunkt?

Im Corona-Jahr 2020 scheint er sehr verborgen. Wir sind aus dem Tritt, und manche fühlen sich im Regelwerk von Land und Kirche wie gefangen.

Der Tod ist näher gerückt, das Leben unverfügbar geworden. Gewinnt die Angst die Überhand?

Wir haben verschiedene Meinungen und Einschätzungen der Lage. Werden wir darüber zu Gegnern?

Es macht müde, ständig aufpassen zu müssen. Es kränkt, Kontakte einzuschränken. Was soll aus uns werden?

Wenn ich die Corona - Proteste im Fernsehen sehe, denke ich, der Zorn braucht auch seinen Platz und die So- und Andersdenkenden Gesprächsräume.

Die alten Texte der Bibel, die Liturgien, die Lieder geben den Schmerzen einen Raum. Der Zorn, die Hilflosigkeit, die Frage nach Schuld und Vergebung, die Tränen – es darf sein, was ist. Ich darf sein im Raum Gottes. ER erfüllt den Raum mit seiner Gegenwart. Gott ist in Jesus Christus ins Grab und hinab in die Hölle gestiegen. Tiefer geht nicht. Ich verstehe oft nicht, warum Gott nicht anders eingreift. Ich könnte ihm da Vorschläge machen! Aber er ist da und hält und hält aus. Uns alle. In diesem Raum, wo sein darf, was ist, kann ein Stück Ruhe gewonnen werden. Die brauchen wir dringend. Wo Ruhe eintritt, verliert die Angst.

Wir müssen alle sterben. Werden wir zuvor leben? Auch das lehrt mich die Bibel, das kostbare Leben auszuschöpfen. Miteinander. Füreinander. Leben, atmen, lieben gehen nur, wenn die Schmerzen nicht abgetrieben, sondern gefühlt werden. Und dann ? Auch als Versehrte ran! Gott soll uns bei der Arbeit finden!

 

„Aber noch tragen wir der Erde Kleid.

Uns hält gefangen Irrtum, Schuld und Leid;

doch deine Treue hat uns schon befreit. Halleluja!

 

So mach uns stark im Mut, der dich bekennt,

dass unser Licht vor allen Menschen brennt!

Lass uns dich schaun im ewigen Advent! Halleluja!“

 

(aus dem Evangelischen Gesangbuch Nummer 154, Vers 4+5)

Hier können Sie die Andacht zum Ausdrucken herunterladen