Erinnern und Wege zur Versöhnung finden

Bestens besuchter jüdisch-christlicher Gottesdienst erinnert auch an Verfolgung von Sinti und Roma

 FRIEDRICHSSEGEN/RHEIN-LAHN. (3. Februar 2020) Mit einem Zigeunerwagen will der Kölner Geigenspieler Markus Reinhardt von Auschwitz nach Köln fahren, um den in der NS-Zeit verfolgten und ermordeten Sinti und Roma ihre Würde zurückzugeben und einen Beitrag zur Versöhnung zu leisten. Das erklärte er während eines jüdisch-christlichen Gottesdienstes in der evangelischen Friedenskirche von Friedrichssegen, mit dem zum internationalen Holocaust-Gedenktag der Opfer der nationalsozialistischen Diktatur gedacht wurde.

Reinhardt, Großneffe des legendären französischen Jazz-Gitarristen Django Reinhardt, war der am weitesten angereiste Mitwirkende der Gedenkfeier, die großen Anklang fand. Viele Besucher mussten in der Kirche stehen. Gemeindepfarrerin Antje Müller, die mit Dr. Christoph Simonis von der jüdischen und Tanja Kaminski von der katholischen Gemeinde den Gottesdienst leitete, erinnerte sehr nüchtern an die Gräueltaten der Nazis, wie die Ermordung Millionen jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger, Sinti und Roma, Homosexueller und Menschen mit Behinderungen. Der Besuch des Kölner Geigers rückte gerade die Verbrechen an Sinti und Roma in den Focus des diesjährigen Gedenkens.

Vor mehr als 600 Jahren kamen Sinti und Roma aus Nordwestindien nach Europa. Ähnlich wie die Juden wurden sie über weite Teile des Mittelalters verfolgt, durften keinen Grundbesitz erwerben und nicht sesshaft werden, so Müller, „was man ihnen dann gleichzeitig zum Vorwurf machte“. Ihre mündlich überlieferte Sprache, das Romanes, ist mit dem indischen Sanskrit verwandt. Der Name „Sinti“ sei vermutlich eine Herkunftsbezeichnung und leite sich von der heute zu Pakistan gehörenden Provinz Sindh oder von dem Fluss Indus (Sindhu) ab. Die Vorurteile gegenüber den früher so genannten Zigeunern, der Antiziganismus, sei in der heutigen Gesellschaft noch weiter verbreitet als der Antisemitismus, so Müller. Die Erinnerungskultur an die Vernichtungspolitik der Nazis, die auch ihnen galt, habe relativ spät begonnen, erinnerte Müller. Eine offizielle Anerkennung des Völkermords gab es erst 1982. Und erst im Jahr 2012 wurde das erste Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin eingeweiht.

Mit Himmlers Auschwitz-Erlass von 1942 nahm die Vernichtungsmaschinerie ihren grauenvollen Lauf. Zehn Menschen teilten sich eine Pritsche, verhungernde Kinder und Erwachsene in Baracken ohne jegliche hygienische Einrichtung, beschrieb Müller. Zum besonders ergreifenden Moment in der Friedenskirche wurde das Verlesen eines Abschiedsbriefes des 14-jährigen Robert Reinhardt, der ahnte, was ihm bevorsteht, als er nach Auschwitz deportiert wurde. „Ich habe mich nun innerlich so weit durchgerungen, dass ich auch den Tod ertragen werde“, schrieb er. Sein Brief endet: „Auf Wiedersehen im Himmel! Euer Robert“.

 „Wir sind Zigeuner und leben in Köln“ stellte sich Reinhardt selbst in der Friedenskirche vor, erzählte von seinem Großvater, dessen halbe Familie umgebracht wurde. Die perfide Angewohnheit der Nazis, Deportierten bei der Ankunft im Konzentrationslager fröhliche Musik vorzuspielen, damit sie keine Angst bekommen, griff Reinhardt auf und spielte einen Walzer, wie es einst ein  bulgarischer Geiger tat. Der hatte Klänge seiner Heimat in den vermeintlichen Strauß-Walzer eingeflochten, ohne dass es die Nazis merkten. Mit seinem Spiel auf der Violine begleitete er außerdem den bewegenden Gesang von Kindern und Jugendlichen, die die Feier musikalisch bereicherten und die jüdischen Lieder, die Odelia Lazar und Michael Wienecke an Akkordeon und Gitarre vortrugen.

Es gehe ihm nicht um die Einteilung in Opfer und Täter, betonte Reinhardt. Und so soll auch sein Kulturprojekt der Reise mit dem Zigeunerwagen vor allem der Versöhnung dienen. Gleichwohl wurde in anderen liturgischen Teilen des Gottesdienstes darauf hingewiesen, dass Erinnerung die Voraussetzung für Versöhnung ist. Mit Zitaten aus Predigten und Reden wurde vor der neuen Qualität rechtsradikaler Gewalt und dem offenen Antisemitismus gewarnt, die von der Einschüchterung von Journalisten, Politikern auf allen Ebenen und Schülern bis zu Mordanschlägen reicht. „Wir leben in der freisten Republik, die wir jemals hatten“, hieß es da und „das Gebot der Nächstenliebe gehört unbedingt zu unserem Glauben. Jeder Mensch hat eine unantastbare Würde.“

Eine Gedenkfeier, die 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz die Verantwortung heute lebender Generationen für Frieden und Freiheit in Wort und Musik bewegend deutlich machte. Bernd-Christoph Matern

Zu den Fotos:
Viel Musik prägte den Gedenkgottesdienst zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Der Kölner Sinti-Musiker Markus Reinhardt, dessen Familie selbst Opfer des Holocaust wurde, war Gast in der Friedenskirche und wünschte sich Versöhnung. Fotos: Matern