DW Kunstprojekt06 2022Quer becrima

Depressionen in Farben ausdrücken

Kunstprojekt des Diakonischen Werks Rhein-Lahn hilft, Ängste und Perfektionismus zu überwinden

DIEZ/RHEIN-LAHN. (29. Juli 2022) Bunt wird es jeden Dienstag im Gemeindehaus der evangelischen Stiftskirchengemeinde Diez. Farben, Stoffe, Bilder auf den Tischen und dem Boden – zehn Personen aller Altersklassen wandeln dort einmal in der Woche seelische Belastungen in Kunstwerke um. Die Kontakt- und Informationsstelle (KIS) des Diakonischen Werkes Rhein-Lahn bietet Menschen mit psychischen Erkrankungen mit dem Projekt unter Leitung von Kunsttherapeutin Elke Busch noch bis Ende Oktober die Möglichkeit, sich nicht allein und unverstanden fühlen zu müssen. Kunst könne die psychischen Erkrankungen darstellen, ausdrücken, wie es sich innerlich anfühlt und zeigen, wer der Mensch noch ist, ganz unabhängig von seiner oder ihrer vorhandenen psychischen Erkrankung, beschreibt die Referentin den Hintergrund des Projekts.

„Wir sind auf Perfektionismus konditioniert, alles muss stimmen und richtig sein“, sagt ein Teilnehmer. Bis Depressionen seinen Alltag lähmten, gehörten in seinem Beruf als Koch perfekte Planung, Vorbereitung und Präsentation wie selbstverständlich dazu. „Man hätte sich sonst auch unsicher gefühlt“. So ging er auch seine ersten Kunstwerke an: alles sollte stimmen. Kunsttherapeutin Elke Busch vermittelt der Gruppe Grundlagen, wie sich mit welchen Farben auf welchem Material arbeiten lässt. Das reicht von Bleistiftzeichnungen über Kohle, Aquarell bis zu Acryl. Der eine findet Gefallen an Fairy Tale, die andere lernt die Fadentechnik schätzen. Der aufs Perfekte getrimmte Mann entdeckt die abstrakte Malerei. Es darf sich verändern, nichts scheint da im Vergleich zum Berufsleben vorgegeben. „Jetzt lerne ich das Loslassen“, reflektiert er über die ersten Treffen. „Ich lerne, mit den Farben zu spielen, und irgendwann höre ich mit der Analyse auf und mache einfach.“

Loslassen und nicht etwas darstellen wollen – das nimmt nicht nur er aus jedem Treffen für die Kunst als auch das Leben mit nach Hause. Einen anderen Teilnehmer hat der Hochleistungssport zuerst psychisch und dann auch physisch in die Knie gezwungen. „In der Kunst kann man sich ausprobieren“, ist er Busch für das Angebot dankbar. „Das ist für mich Therapie, sich frei von allem Leistungsdruck zu fühlen.“ Die Leiterin des Projekts fungiert dabei nicht als „Lehrerin“, sondern ermöglicht vielmehr Freiraum, sich von der künstlerischen Entfaltung inspirieren zu lassen, abschalten zu können. Mit einem Kunstwerk dem Innersten eines Menschen Ausdruck zu verleihen, „da gibt es nichts zu verbessern“, stellt die Kunsttherapeutin klar.

Während für den einen Kunst schon immer ein Ventil war, sich auszudrücken, ist sie für die meisten Neuland. „Ich lerne eine ganz neue Seite an mir kennen“, sagt ein 34-Jähriger, der mit Kunst zuletzt in der Schule konfrontiert wurde. Jetzt probiert er sich aus. „Das macht echt Spaß“. Nicht nur der Umgang mit Farben ist neu für ihn, sondern auch, etwas anzufangen, ohne fest zu wissen, was werden soll. Dem Stimmungsdunkel, in das ihn die Depression immer wieder treibt, setzt er am Schlossberg hell leuchtende Farben entgegen. „Ich mag diese Neon-Farben.“ Die Erkrankung in Kunst auszudrücken, eint die Teilnehmenden, so einzigartig jedes der Woche für Woche entstehenden Werke ist.

Wider den Jahrzehnte angelernten Perfektionismus zu erfahren und zu sehen, dass auch ohne fertige Vorstellung im Kopf etwas kreativ Einmaliges entsteht, das ist ein Baustein auf dem schwierigen Weg, das eigene Leben nicht vom Blick Anderer darauf abhängig zu machen. Gerade dabei hilft die Gruppe ebenso. „Das wird schon wieder“, sei so ein Satz, den Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen oft zu hören bekämen. „Viele können das Ausmaß gar nicht nachvollziehen“, erklärt eine Teilnehmerin. Irgendwann müsse man zu sich selbst ehrlich sein und sich eingestehen, dass man Hilfe braucht, sagt eine 55-Jährige. Ansonsten gebe es keinen Ausweg aus der Spirale nach unten: „Erst bricht das soziale Umfeld weg, dann die Arbeit und die Familie“, erinnert sie sich. Das Schlimmste: „Man definiert sich selbst nur noch über die Ängste, macht sich fertig, zieht sich vollkommen zurück von anderen Menschen und vegetiert vor sich hin“, weiß Elke Busch. Die Erkrankung der Psyche gehe oft auf die Physis über. Die Kunstgruppe hilft, überhaupt wieder die eigenen vier Wände zu verlassen. Dort treffen die Teilnehmenden auf Menschen, vor denen sie sich nicht verstecken müssen, die sie verstehen. „Man fühlt sich nicht allein und unverstanden, wenn man sich hier mit komplett offenem Visier begegnet“, formuliert einer, „gut, dass es noch mehr kaputte Leute gibt, die die Probleme nachvollziehen können.“

Es wird auch schon mal geweint, berichtet Busch. „Und da müssen nicht gleich alle mit einem Taschentuch zur Seite springen.“ Gefühle würden im normalen Miteinander oft verdrängt, und es werde in der Gesellschaft ohnehin zu wenig darüber gesprochen. „Gut, wenn sie sich im geschützten Raum der Gruppe Bahn verschaffen.“ Das Alter spielt für das Projekt übrigens keine Rolle. Vom Twen bis zur über 70-Jährigen sitzt da in kreativer Gemeinsamkeit zusammen. „Das passt trotzdem“, sagt eine 25-Jährige, die erst vor kurzem wieder in den Rhein-Lahn-Kreis zurückkam und sich von dem Angebot des Diakonischen Werkes Hilfe verspricht. „Das ist ein Mensch, der hier am Tisch sitzt, Punkt.“, pflichtet der jungen Frau ein 41-Jähriger bei.

Elke Busch hat großen Respekt vor denjenigen, die sich ihrem Kunstprojekt angeschlossen haben. Auch wenn über die diakonische Beratungsstelle ein gewisses Vertrauensverhältnis bestehe, sei es immer noch eine große Herausforderung, dann wirklich rauszugehen, sich einer Gruppe anzuschließen und auch durchzuhalten.

Das Kunstprojekt, das finanziell über die Paulinenstiftung Wiesbaden ermöglicht wird, dauert bis zum 25. Oktober. Informationen gibt Elke Busch unter Telefon 06432-924532; E-Mail Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Bernd-Christoph Matern

Zu den Fotos:
Depressionen sorgen für seelische Dunkelheit und physische Beschwerden. Im Kunstprojekt der Kontakt- und Informationsstelle (KIS) des Diakonischen Werkes Rhein-Lahn werden Gefühle der Teilnehmenden in Kunstwerken ausgedrückt. Foto: Matern