Aufbegehren, wo die Menschenwürde verletzt wird
Ökumenisches Holocaust-Gedenken in der Friedenskirche erinnert an ermordete Gruppe von Gotteszeugen
RHEIN-LAHN. (30. Januar 2024) Zu einem Gedenken an die Opfer des Holocaust hatte die Ökumene-Pfarrerin des evangelischen Dekanats Nassauer Land Antje Müller zusammen mit der katholischen Kirchengemeinde und Vertretern jüdischen Glaubens in die Friedenskirche nach Friedrichssegen eingeladen. Vielseitig wurde dort an das unsagbare Leid erinnert, dass das menschenverachtende nationalsozialistische Regime Andersdenkenden zugefügt hat. Zur alljährlichen Erinnerung wurden diesmal unter dem Titel „Die vergessenen Opfer“ die Verbrechen der NS-Diktatur an den Zeugen Jehovas besonders in den Blick genommen. Das Gedenken zeigte auch: Rechtsextremistischer Hass und Menschenverachtung in Wort und Tat wurde auch von Christen gefördert.
„Dir, dir Jehova will ich singen“, erklang es zu Beginn im gut gefüllten Gotteshaus. Der Begriff leitet sich vom hebräischen Jahwe ab, wie Gott im Alten Testament bezeichnet wird: „Ich bin, der ich bin“. Im aktuellen evangelischen Gesangbuch wurde der Gottesbegriff durch „Höchster“ ersetzt. Das war nicht die einzige wissenswerte Erklärung des Nachmittags. Rainer und Talida Dämgen erinnerten an Martin Niemöller. Der Marineoffizier, evangelische Theologe, Pfarrer, Mitbegründer der Bekennenden Kirche, KZ-Häftling und spätere erste Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) stellte den damaligen Christen kein gutes Zeugnis aus. Ein gut Teil der Schuld an „den ewigen Kriegen“ falle auf sie, nicht auf Gott, zitierten die beiden im Altarraum. Antje Müller erinnerte daran, dass zur Ernennung des evangelischen Reichsbischofs Ludwig Müller in Wittenberg Zweidrittel der Pfarrer in NS-Uniform teilnahmen. Anders Martin Niemöller. Er wies beschämt auf die damaligen Mitglieder „einer sogenannten Sekte wie die der ernsten Bibelforscher, die zu Hunderten und Tausenden ins Konzentrationslager und in den Tod gegangen sind, weil sie den Kriegsdienst ablehnten, und sich weigerten, auf Menschen zu schießen“.
Erschütternd die in einem Video präsentierten Augenzeugenberichte über die Hinrichtung August Diekmanns im September 1939, der sich weigerte, Soldat zu werden und seinem Glauben abzuschwören. 8000 Häftlinge mussten dabei zuschauen. Die Abschreckung hatte keinen Erfolg; Hunderte der unbeugsamen Zeugen Jehovas, die bis 1931 „ernste Bibelforscher“ hießen, wurden ebenfalls hingerichtet; tausende kamen in den Lagern ums Leben. „Ein Pakt mit Hitler wäre ihnen als ein Pakt mit dem Satan vorgekommen.“ Ein Mensch könne kein Führer sein; Heil sei nur durch Christus zu erlangen, erklärte Müller deren Haltung. Die Gedenkstunde erinnerte beispielhaft an Verfolgte aus dem Rhein-Lahn-Kreis wie Maria Hombach aus Bad Ems und Max Hollweg aus Marienfels, der die Geschehnisse in der Region und seine KZ-Haft in einem Buch verewigte, das den Titel trägt „Es ist unmöglich von dem zu schweigen, was ich erlebt habe“.
Wie wichtig die Erinnerung an die unfassbar menschenverachtenden Taten des NS-Regimes ist und an deren Ursprünge, bekräftigte Daniel Strauß in einem Video-Statement. Der Zeuge Jehova ist seit 1995 Vorsitzender des baden-württembergischen Landesverbandes der Sinti und Roma, hat das Kulturzentrum „RomnoKher“ in Mannheim gegründet und gilt als renommierter Kenner in der Holocaustforschung; zahlreiche seiner Publikationen beschäftigen sich mit dem Thema „Antiziganismus“.
Zur Sprache kamen während der Gedenkfeier auch aktuelle Entwicklungen wie weltweite Kriege und das Erstarken rechtsextremistischer Gedanken in Deutschland. Panzer, Bomben und Raketen ließen sich zwar nicht aufhalten, „aber wir können etwas tun“, sagte die katholische Gemeindereferentin Tanja Kaminski. „Wir können aufbegehren, wo die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird, zuhause, in der Schule und am Arbeitsplatz.“ Und Wolfgang Elias Dorr als Vertreter des jüdischen Glaubens betonte: „Wir sehnen uns nach Gerechtigkeit, die nicht auf Kosten anderer zustande kommt“. Er bat darum, das Gedenken zu stärken und als mutige Menschen zu einem lebendigen Zeichen von Gottes Frieden zu werden.
Musikalisch umrahmt wurde die Feier von Organistin Hannelore Syre und dem Chor Septime aus Miellen, der unter Leitung von Wassily Kotykov passende Lieder anstimmte. „Hevenu Shalom Alechem“ (Wir wünschen Frieden für alle) etwa, das Friedenslied „Tebje Pajom“ („O Herr, gib Frieden“) und das bekannte „Von guten Mächten wunderbar geborgen“, das der evangelische Pfarrer Dietrich Bonhoeffer 1945 im KZ Flossenbürg schrieb, bevor er dort 39-jährig ermordet wurde.
Und auch das war ein Zeichen für den Frieden unter Religionen und Völkern: Nikolaus Hermann aus Miellen, von dem bereits der siebarmige hölzerne Leuchter stammt, der die Kirche bei christlich-jüdischen Gedenkveranstaltungen ziert, hatte ein neues Wandbild geschaffen, das die Versöhnung zwischen Judentum und Christentum in den Fokus rückt. Bernd-Christoph Matern
Zu den Fotos:
In der Friedenskirche von Friedrichssegen erinnerten Vertreter des christlichen und des jüdischen Glaubens an die Opfer des Holocaust. Im Zentrum des Gedenkens standen diesmal die Zeugen Jehovas, die schon zu Beginn des NS-Regimes in Lager deportiert und aufgrund ihres Glaubens hingerichtet wurden. Fotos: Bernd-Christoph Matern