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„Nie-wieder“ ist zerbrechlich: Erinnerung als Mahnung

Gedenkorte und -veranstaltungen an jüdisches Leben stellen persönliche Schicksale und Erfahrungen in Focus

01 2021 911 Gedenkfeier Bad Ems 1 CMetzmacherRHEIN-LAHN. (12. November 2021) An 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland wird im Jahr 2021 erinnert. Doch rund um den 9. November steht der Holocaust im Mittelpunkt. Zu welchen Gräueltaten Deutsche an Deutschen ab 1938 fähig waren, wurde zu Beginn dieses Monats mit neuen Gedenkorten sowie einer Reihe von Gedenkveranstaltungen ins Bewusstsein gerufen. Sowohl die persönliche Betroffenheit als auch die Mahnung vor aufkeimendem Hass in der Gesellschaft samt eines zunehmenden Antisemitismus wurden dabei unter anderem in Bad Ems, Diez, Frücht, Lierschied, Miehlen und Ruppertshofen in den Fokus gerückt.

„Wir wollen nicht anklagen und verurteilen, sondern mahnen“, sagte Ursula Strack während der Einweihung eines Gedenksteins für die Familie Grünebaum in Lierschied. Zusammen mit Regina Watkin-Kolb hatte sie sich für das sichtbare Denkmal eingesetzt. Ihre Mutter sei eine Schulkameradin der beiden siebenjährigen Zwillingsmädchen gewesen, die deportiert und im KZ Theresienstadt ermordet wurden. Wir wollen mit diesem Gedenkstein ein Mahnmal setzen, um zu zeigen, dass man sie nicht vergessen hat.“ Ähnlich bewegend schilderte in Ruppertshofen Jürgen Redert, wie es dort zur Errichtung eines Gedenksteins gekommen ist. Ellen Stein hatte bereits vor vielen Jahren zum Schicksal der ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner jüdischen Glaubens recherchiert und ein Buch zusammen gestellt. „Nach einer Erinnerung an diese Zeit, etwa in der Dorfchronik habe ich vergeblich gesucht“, sagte Redert. Es sei bewegend, dass jetzt ein blinder Fleck in der Geschichte des Dorfes verschwindet.

JGLier311021GaesteR becrima Das Unrecht könne durch Totschweigen nicht ungeschehen gemacht werden, betonten an beiden Orten die zuständigen Pfarrpersonen Nicole Wiehler (Ruppersthofen) und Andreas Pohl (Lierschied). „Das Nie-wieder ist zerbrechlich geworden“, sagte Pohl; nur mit dem Erinnern, das den einstigen Nachbarn ihre Würde zurückgebe, habe es eine Chance. „Danke für Ihren Mut und Ihre Klarheit und für die Arbeit“ hatte Renate Weigel, Dekanin des evangelischen Dekanats Nassauer Land in einem verlesenen Grußwort formuliert. „Die Menschen, deren Namen auf ihm zu lesen sind, haben einmal hier gewohnt. Sie gehörten dazu. Unter der Nazi-Herrschaft entschied man, dass sie nicht wert seien zu leben. Sie wurden abtransportiert und ermordet“, so Weigel. „Und dann begann das große Schweigen. In dem großen Schweigen wurden sie noch einmal für nichtig erklärt. Gut, dass das ein Ende hat! Wir geben heute denen, die so großes Unrecht erlitten, einen Platz. Wir nehmen sie wieder auf in unsere Gemeinschaft. Wir bergen die Erinnerung, auch wenn sie schmerzt.“

JGLier311021BgmLo becrima JGLier311021Landrat becrima Als offene Frage bleibe zwar das „Warum?“, sagte Landrat Frank Puchtler, umso wichtiger sei aber das Erinnern, um dazu zu lernen, achtsamer zu sein und zu schauen, wie es den anderen geht. Die Steine seien eine Mahnung, solche Wege nicht wieder zu beschreiten. Und es freue ihn, dass junge Mensschen am Gedenken teilnehmen. Mit Blick auf das Welterbe könne man auf die Initiatoren und die beiden Orte stolz sein, dass sie zur Geschichte stehen. Den Bezug zur Gegenwart stellten unter anderem auch die Verbandsgemeindebürgermeister Jens Güllering und Mike Weiland her. Letzterer erinnerte an den Fußballer Jérome Boateng, der den zunehmenden Rassismus beklagt. Wieder sei die Gesellschaft dabei, Menschen in Schubladen zu stecken. „Wir sollten stolz sein auf die Vielfalt der Kulturen in unserem Land.“ Es brauche des Gedenkens, damit die Zukunft besser wird und nicht dieselben Fehler gemacht werden.

Nicht nur mit Musik, die in Konzentrationslagern komponiert wurde, umrahmten Odelia Lazar und Michael Wienecke die Gedenkstunden, sondern auch mit dem Volkslied „Kein schöner Land“, das deutlich machte, dass der Holocaust deutsche Menschen und Nachbarn ermordet hat.

MMW2019GedenktafelBlume becrima Sehr persönliche Erinnerungen standen in diesem Jahr am 9. November in Miehlen im Focus, wohin seit Jahren gemeinsam von der evagelischen und der katholischen Kirchengemeinde zu einer Mahnwache eingeladen wird. Der Theologe Dr. Marc Fachinger vom Bistum Limburg zeigte in seinem Vortrag „…denn sie hatten einen Namen: Bertha (1901-1944) und „Fritz“ Fred Strauss (1926-2013), geboren in Miehlen.“ sehr eindrückliche Bilder und das Video eines Zeitzeugen. In diesem berichtet der in Miehlen („a small town called Miehlen“) geborene Fred Strauss, der einen Freund namens Hermann hatte, wie er durch zunehmende Anfeindungen und sogar Steinwürfe auf ihn aus seiner unbeschwerten Kindheit gerissen wurde. Strauss, der 1941 mit dem Schiff nach Amerika kam, starb 2013, das Video stammt von 1996. Im Anschluss an den berührenden Vortrag wurde auf dem Marktplatz während einer Mahnwache wieder der ermordeten Miehlener jüdischen Glaubens gedacht. Lieder der jüdischen Widerstandskämpferin Channah Senesh, gesungen von Gemeindepfarrer Michael Wallau mit Klavierbegleitung von Lisa Dohr und zionistische Lieder gespielt von Conner Sorensen und Rudolf Raab umrahmten den Vortrag im Gemeindehaus und die Mahnwache an der Gedenktafel.

03 2021 911 Gedenkfeier Bad Ems 13 CMetzmacher02 2021 911 Gedenkfeier Bad Ems 5 CMetzmacherZum Gebet und Gedenken hatte die Ökumene-Pfarrerin des Dekanats Nassauer Land Antje Müller nach Bad Ems eingeladen. Treffpunkt war in diesem Jahr der Bahnhofvorplatz unweit des Wohnhauses von Ruth Cohn, an deren Leben in der Mainzer Straße 7 ein Stolperstein erinnert. 

Auch Schülerinnen und Schüler des Goethe-Gymnasiums und der Realschule plus wirkten beim Gedenken mit ihren Lehrern David Schmidl und Elisabeth Knopp mit, verlasen mit den Dekanatsmitarbeitenden Claire Metzmacher, Matthias Metzmacher und Ralf Skähr-Zöller etwa die Namen der Opfer, für deren Seelen die Kerzen in der Mitte dess Platzes brannten. Schüler des  Goethe-Gymnasiums hielten ein Referat über das Schicksal von Ruth Cohn. Besonders bewegend war der hebräische Gesang des Projektchores „Schir“ unter Leitung von Jochen Liefke und der gesungene Psalm von Schwester Jerusalem, einer griechisch-orthodoxen Nonne jüdischer Abstammung, die jetzt im Kloster Arnstein lebt.
Dr. Christoph Simonis von der jüdischen Kultusgemeinde Koblenz trug einen Psalm in hebräischen Sprache vor und betete das jüdische Gebet „El Male rachamim“, bevor Antje Müller zum gemeinsamen Vaterunser einlud und die Anwesenden mit dem Aaronitischen Segen verabschiedete.

Mit der Veranstaltungsreihe „Gegen das Vergessen“ erinnerte einmal mehr der Rhein-Lahn-Kreis vor der Kreisverwaltung in Bad Ems an die Geschehnisse am 9. November 1938 – der Reichspogromnacht. Landrat Frank Puchtler dankte allen Beteiligten und betonte die Bedeutung des Erinnerns, Mahnens und Verzeihens. Dekanin Renate Weigel erzählte von einer Begegnung mit einem Mann in Israel, dessen Familie zwar rechtzeitig aus Deutschland fliehen konnte, aber durch den Suizid des Großvaters und das Schweigen rund um die Ereignisse sehr litt. Sie betete mit den Anwesenden für die Verstorbenen und ihre 

GdV091121 KVFamilien. Kulturreferentin Marietta Hartwig hatte die Veranstaltung organisiert und bedankte sich bei den Teilnehmenden für ihr Interesse und freute sich, dass trotz der Pandemie die wichtige Gedenkfeier angeboten werden konnte. Die Solisten des Yachad Chamber Orchestra - Alexander Morogovski, Klarinette; Michael Kibardin, Violine; Lev Gordin, Cello und Dr. Roman Salyutov, Klavier – trugen mit Werken von Maurice Ravel, Mordechaj Gebirtig und Ernest Bloch ebenfalls zum Erinnern und Gedenken bei.

Zur ökumenischen Gedenkfeier unter dem Titel „Gegen das Vergessen“ hatte sonntags zuvor bereits der Arbeitskreis Stolpersteine Diez auf den dortigen Marktplatz eingeladen. Neben dem Gedenken folgte im Sophie-Hedwig-Gymnasium ein Konzert mit Daniel Kempin unter dem Titel „mir lebn ejbik!“ (Wir leben ewig!). Wie ein Amerikaner die Erinnerungskultur der Deutschen in Form der Stolpersteine schätzt, sehen Sie in diesem YouTube-Beitrag „I Really Respect Germany For This“. Bernd-Chr. Matern

Auch in der evangelischen Kirche Frücht feierten Pfarrerin Antje Müller und Wolfgang Elias Dorr gemeinsam einen christlich-jüdischen Gottesdienst im Gedenken an die Vielzahl jüdischer Opfer. Begleitet wurden sie von Odelia Lazar, Michael Wienecke und Christine Münch. Schülerinnen des Goethe-Gymnasiums Bad Ems stellten ihre Recherchen zu jüdischem Leben in Frücht und Nievern vor. Die jeweils kleinen Religionsgemeinschaften waren noch vor Beginn des Krieges aufgelöst worden. Einige waren ausgewandert, andere jedoch hatten Ausgrenzung und Pogrome erleben müssen. Die Flucht in die Anonymität der nahen Großstadt Frankfurt hatte den jüdischen Familien Strauß, Roos, Mainzer oder Bär keinen Schutz geboten. Von Frankfurt führte ihr Weg über Deportation und Qual im Konzentrationslager in den gewaltsamen Tod.

Odelia Lazar, deren Vorfahren ebenfalls den Tod in den Gaskammern fanden, und Michael Wienecke untermalten das Schicksal der sechs Millionen ermordeten Juden mit sehr passend ausgewählten Liedern. Aus einem stammt die Zeile der Überschrift: „Freue dich nicht, Kind. Dein Lachen könnte uns verraten.“ Das Lied, das die massenhafte Erschießung von Juden in Vilnius (Litauen) im April 1943 zum Hintergrund hat, zeigt deutlich die Angst entdeckt, verschleppt und getötet zu werden. Es ging jedoch auch darum, Hoffnung und Zivilcourage aufzuzeigen. Pfarrerin Müller hob das couragierte Eintreten des christlichen Vikars Willi Göttert hervor, der sich als Pfarrer der Bekennenden Kirche für Verfolgte einsetzte und Unrecht öffentlich anklagte. Dorr und Müller waren sich einig, dass der Gott Israels und Jesu Christi für alle Menschen eine Weisung gegeben hat, die man sich wie Willi Göttert auch heute angesichts wieder erstarkendem Antisemitismus ins Gedächtnis rufen sollte: Die innere Zuwendung zu Gott ist wichtig. Aus ihr fließt die Liebe zum Mitmenschen als Antwort auf die Liebe, mit der Gott dem einzelnen Menschen begegnet. So bedingen sich letztlich Zivilcourage und Glaube. (M. Nörtershäuser)

Zu den Fotos:
An vielen Orten im Rhein-Lahn-Kreis wurde in den vergangenen zwei Wochen an den Holocaust erinnert. Gedenksteine in Lierschied und Ruppertshofen wurden als Mahnung für die Zukunft eingeweiht und geben den Ermordeten ein Stück ihrer Würde zurück. In Bad Ems erinnerte das „Gebet und Gedenken“ an das Schicksal der Bad Emserin Ruth Cohn; vor dem Kreishaus wurde unter dem Motto „Gegen das Vergessen“ betont, dass Schweigen ein doppeltes Morden für die Opfer des Holocaust bedeutet. Fotos: Matern/Metzmacher/Kreisverwaltung/Nörtershäuser